Christian Helbich/Lena Krull
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Kirche

Die vormoderne Stadt zeichnete sich durch eine heterogene Sakraltopographie mit einem Netz unterschiedlicher kirchlicher Institutionen aus, die teilweise räumlich von ihrem weltlichen Umfeld durch Mauern abgegrenzt waren, eigene Rechts- und Immunitätsbezirke bildeten und dem Zugriff der weltlichen Obrigkeit in den Städten entzogen waren (z.B. Kathedralen sowie Klöster und Stifte).

Das Zentrum des kirchlichen Lebens in der Stadt bildete(n) die Pfarrkirche(n), die nicht selten mit Klöstern oder Stiften (Stiftskirchen) verbunden war(en). Ausgangspunkt war zumeist eine Filialkirche, die entweder bereits auf eine vorstädtische Siedlung zurückging oder mit der Stadtgründung neu geschaffen wurde. Häufig umfasste diese ein größeres Gebiet innerhalb wie auch außerhalb der Stadtgrenze. Im Zuge des Wachstums der Städte entstanden in vielen Fällen nach und nach durch Abpfarrungen neue Pfarrbezirke mit eigenen Gotteshäusern. In den oft im Zentrum, manchmal aber auch am Rand der Städte gelegenen Haupt- sowie in den um diese herum gruppierten übrigen Pfarrkirchen fanden die Gottesdienste der Gemeinden und weitere sakrale Handlungen statt (Taufe, Heirat, Begräbnis etc.). Darüber hinaus waren die Kirchen zusammen mit den umgebenden Kirch- bzw. Friedhöfen Orte für die Zusammenkünfte zu geistlichen Zwecken (Prozessionen, Bruderschaften), aber auch zu profanen Anlässen (Handel, Gerichts- und Ratsversammlungen).

Neben den Pfarrkirchen gab es vielerorts eine große Anzahl weiterer kirchlicher Einrichtungen, z.B. Kapellen, die in anderen Gebäuden wie Stadt- oder Immunitätstoren (Michaelskapelle in Xanten), Rathäusern oder Spitälern integriert sein oder an frequentierten Straßen oder Plätzen stehen konnten. In den oft privat gestifteten, kleinen Gebäuden kam nicht eine Gesamtgemeinde zum Gottesdienst zusammen, sondern nur Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen (Gilden, Bruderschaften etc.). Während in katholischen Städten nach der Reformationszeit neben den bestehenden Kapellen weitere entstehen konnten, wurden viele Kapellen in evangelischen Städten obsolet und abgerissen oder anderweitig verwendet, z.B. als Lagerhäuser.

Ergänzt wurde die Sakraltopographie der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt durch Niederlassungen von Orden, z.B. Klöster von Mönchs- bzw. Nonnenorden, Konvente von Bettelorden, Kommenden von Ritterorden wie dem Deutschen Orden oder den Johannitern (Johanniskapelle in Münster; Kommende in Burgsteinfurt), Wirtschaftshöfe auswärtiger Klöster (Pfleg- oder Stadthöfe) sowie Beginen- und Fraterhäuser. Im Zuge der Entstehung neuer klösterlicher Gemeinschaften im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurden auch in den Städten immer wieder zusätzliche Niederlassungen gegründet bzw. bestehende umgewandelt. Dominierten im Früh- und Hochmittelalter u.a. Benediktiner (St. Michael und St. Godehard in Hildesheim), Augustinerchorherren (St. Moritz in Halle) und Prämonstratenser (Unser Lieben Frauen in Magdeburg), so kamen insbesondere seit dem 13. Jh. die neuen Bettelorden wie die Dominikaner (Propsteikirche in Dortmund) und die Franziskaner oder Minoriten (St. Marien in Höxter) hinzu, die sich oftmals am Rand der Stadt niederließen. Nach der Reformation wurden viele Klöster in evangelischen Städten aufgelöst und die Gebäude abgerissen oder einer anderen Verwendung (z.B. als städtische Schulen wie das St. Claren-Kloster in Weißenfels) zugeführt. Nicht selten blieben aber auch im protestantischen Bereich Klöster als katholische „Inseln“ bestehen oder wurden wie manche Frauenklöster in freiweltliche evangelische Frauenstifte umgewandelt. In katholischen Städten dagegen kamen mit der katholischen Reform im Zuge des Konzils von Trient (1545–1563) neue Orden wie die Jesuiten und Kapuziner (in Brakel) hinzu.

Die Säkularisation von 1803 führte zur Aufhebung vieler geistlicher Einrichtungen wie Klöster und Stifte. Die dadurch leer stehenden Sakralgebäude wurden häufig ihrer Kunstschätze beraubt, umgenutzt oder gar abgerissen. Im Idealfall wurden die Kloster- und Stiftskirchen als Pfarrkirchen einer neuen Nutzung zugeführt.

Trotzdem blieben besonders Pfarrkirchen und Kathedralen auch im 19. Jh. bestimmende architektonische Punkte in den Städten. Tatsächlich reagierte man mit dem Bau neuer Kirchen besonders im Rahmen von Gemeindeneugründungen auf das enorme Wachstum der Städte angesichts der Industrialisierung und Urbanisierung, denn nur so konnte eine adäquate seelsorgerliche Betreuung der wachsenden Bevölkerung gewährleistet werden. Der Kirchenbau nahm so enorme Ausmaße an, dass in Berlin sogar von einem „Kirchenbauboom“ seit dem letzten Drittel des 19. Jhs. gesprochen wird. Die Kirchen konnten dabei z.B. als Zentrum neuer Stadtteile mit einem umgebenden Platz fungieren (Heilig-Kreuz-Kirche Münster), als Gebäudeensemble mit Kirche, Pfarrhaus und weiteren gemeindlich genutzten Bauten errichtet werden oder als Einzelbau in eine bestehende Häuserzeile integriert werden (Heilig-Kreuz-Kirche Berlin-Wilmersdorf). Der architektonische Stil folgte dem Geschmack der Zeit: im 19. Jh. dominierte zunächst der Klassizismus, dann bis zum Ersten Weltkrieg der Historismus (Neogotik, Neoromanik, Neobarock). Im 20. Jh. beeinflussten auch Jugendstil, Expressionismus und Funktionalismus die Kirchenarchitektur.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten in den Städten viele zerstörte Kirchen wieder aufgebaut werden, sei es in der ursprünglichen Form oder in einer modernisierten Variante. In Berlin entschied man sich in den 1950er Jahren bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sogar für den Erhalt der Kirchenruine und die Ergänzung durch einen modernen Kirchenbau. Experimentierfreudige Architekten und Gemeinden errichteten in den 1950er und 1960er Jahren zunehmend Kirchen mit neuen Grundrissen und aus im Kirchenbau bislang ungewöhnlichen Materialien wie Sichtbeton.

In den letzten zwei Jahrzehnten wurden kaum noch neue Kirchen gebaut, da die Zahl der Kirchenmitglieder in beiden Konfessionen rückläufig und die finanzielle Lage der Kirchen angespannt ist. Der Erhalt der Gebäude stellt viele Gemeinden vor enorme Probleme, denen diese wie schon im Bauboom des 19. Jhs. mit Spendenaktionen zu begegnen versuchen. Trotzdem werden viele katholische und evangelische Pfarreien zusammengelegt, Kirchengebäude profaniert und umgenutzt oder gar abgerissen – ein Vorgang, der nicht immer ohne Konflikte abläuft.

Christian Helbich/Lena Krull (1.9.2014)

Literaturhinweise

  • Amon, Amon: Stadt und Pfarre, in: Stadt und Kirche, hg. v. Franz-Heinz Hye (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 13), Linz 1995, S. 121–136.
  • Erne, Thomas (Hg.): Kirchenbau (Grundwissen Christentum 4), Göttingen 2012.
  • Freitag, Werner (Hg.): Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bürgerkirche – Urbanes Zentrum (Städteforschung A 82), Köln [u.a.] 2011.
  • Goetz, Stephan: Kirchen für Berlin. Der Wilhelminische Bauboom, Berlin 2008.
  • Isenmann, Eberhard: Die deutsche Stadt im Mittelalter. 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien [u.a.] 2012, bes. S. 118–123.
  • Jähnichen, Traugott (Hg.): Zwischen Tradition und Moderne. Die protestantische Bautätigkeit im Ruhrgebiet 1871–1933, Bochum 1994.
  • Reitemeier, Arnd: Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Stuttgart 2005.

Diese und weitere Literaturangaben sind zu finden in der Mediensuche.